Ich kam mit elf Jahren in die KINDERHILFE, als ich in der sechsten Klasse der Sekundarstufe war. Die finanzielle Lage in meinem Elternhaus war sehr schlecht. Ich bin die jüngste von fünf Geschwistern und das einzige Mädchen. Meine Eltern konnten wegen der vielen Kinder keine festen Arbeiten annehmen, vor allem auch weil sie nur eine minimale Schulbildung besaßen.
Wir wohnten im schlimmsten Viertel der Stadt, in dem schon damals Drogen-Kriminalität und Auftragsmorde an der Tagesordnung waren. Es wird erzählt, dass man hier alle Sachen, die in der Stadt gestohlen wurden wiederfindet. Wir Kinder durften nicht auf die Straße hinausgehen. Meine Eltern verhinderten das, damit wir nicht auf die schiefe Bahn gerieten. Aber das führte dazu, dass wir als ängstliche Kinder aufwuchsen. Meine Mutter war immer die stärkste Person in der Familie; ihr Kampf war unglaublich. Sie durchwanderte täglich die ganze Stadt, um Lose zu verkaufen, wobei sie nur einen geringen Prozentsatz vom Verkauf behalten konnte. Sie ging fast den ganzen Tag in Privathäusern und auf den Märkten von Tür zu Tür. Abends verkaufte sie weiter in einem kleinen Kiosk. Dieser war weit entfernt von dem Viertel, in dem wir wohnten, so dass ihr Arbeitstag um fünf Uhr morgens begann und sie um zehn Uhr nachts zurückkam. Alle meine Geschwister mussten sie beim Heranwachsen auf diesem Weg begleiten, denn in Kolumbien ist es gefährlich, Kinder allein zu lassen.
Für mich als einziges Mädchen war es sogar besonders gefährlich allein zu bleiben, weshalb ich immer an ihrer Seite blieb und nur bei ihr schlafen durfte, während meine Brüder sich in einem Etagenbett drängelten. Daher kam ich immer erst spät in den Schlaf, weshalb ich am nächsten Morgen nur schwer aufstehen konnte.
Mein Vater ist immer sonntags mit uns in die Kirche gegangen und versuchte uns damit ein geregeltes Umfeld zu zeigen. Meine Eltern gingen mit uns auch immer weit von unserem Viertel entfernt spazieren, nur mit Wasser als Wegzehrung. Es war kein Geld da, um etwas zu kaufen oder Proviant mitzunehmen.
Immer gab es Probleme, wir hatten viele Schulden, und normalerweise nahm keiner von uns etwas zum Essen in der Pause mit in die Schule. Wenn er Geld für Bücher brauchte, musste mein ältester Bruder z.B. Autos bewachen. Immer klopfte irgendjemand an die Tür, dem wir Geld schuldeten, und es war nie genug zum Essen da.
Sobald wir alt genug waren, mussten wir arbeiten gehen. Aus diesem Grund wollte ich in der sechsten Klasse die Schule verlassen. In dem Moment schickte Gott mir die KINDERHILFE, die immer auf dem Schulbesuch basiert. Natürlich hätten meine Eltern es nicht zugelassen, dass ich die Schule abbrach. Aber da hatte die KINDERHILFE schon mein Schulgeld übernommen. Ich bekam jetzt dort mein Mittagessen und eine Zwischenmahlzeit, außerdem die Uniformen und alle nötigen Schulsachen.
Zuhause blieb die Lage unverändert. Meine Eltern konnten meinen Brüdern nach der Schule keine weitere Ausbildung ermöglichen, obwohl diese sehr gute Schüler waren, und das frustrierte meine Familie sehr, denn mein ältester Bruder hatte immer die besten Noten der ganzen Schule bekommen. Aber Dank der KINDERHILFE und meinen Paten konnte ich die Schule beenden und danach auch das Studium an der Universität. Während ich tagsüber als Gegenleistung in der KINDERHILFE half, studierte ich abends.
Durch die Patenschaft konnte ich meine persönlichen Sachen haben, denn es gab Zeiten, wo wir zuhause weder Strom noch Wasser hatten, noch Reinigungsartikel. Mit meiner Beihilfe aber konnte ich mir jetzt das Lebensnotwendigste selbst kaufen, wie Monatsbinden, Zahnpasta, Shampoo und hatte Geld für Kopien. Von dem Geld, das die Paten mir zu Weihnachten und zum Geburtstag schickten, konnte ich größere Kosten decken, um zuhause zu helfen.
Mein Studium an der Universität war wunderbar, denn ich studierte mit Mist älteren Studierenden zusammen und lernte viel von ihren Erfahrungen bei der Arbeit. Als meine Mutter schwer krank wurde, begann ich, das Gelernte in die Praxis umzusetzen. Sie war zweimal im Krankenhaus auf der Intensivstation. Wir hatten weiterhin viele Schulden und konnten deshalb weder die Krankenhauskosten noch die Pflege zuhause bezahlen. Nie werde ich vergessen, wie die KINDERHILFE und meine Paten mit ihren Geldgeschenken mir in jedem dieser schweren Momente halfen. Ich werde es wohl nie schaffen meine übergroße Dankbarkeit ihnen gegenüber in Worten auszudrücken.
Es ist gut, dass die Mitarbeiterinnen der KINDERHILFE meine zweite Familie wurden. Denn zuhause hatten wir keinen gefliesten Fußboden, den man reinigen konnte. Auch kochen lernte ich bei meiner Mutter nicht, da sie das nur mit dem wenigen, das wir hatten machte. Sie musste ständig arbeiten und hatte kaum Möglichkeiten, mir etwas beizubringen. Alles was ich von ihr lernte war ihr beim Abrechnen zu helfen und viel zu laufen. Deshalb war ich auch immer gut in Mathematik.Ansonsten schimpfte meine Mutter viel, und wir kamen nicht gut miteinander aus. Aber all das konnte ich aufarbeiten und ihre großen Anstrengungen und körperliche Verausgabung begreifen, denn sie ist die kämpferischste Frau, die ich kenne. Sie hat immer noch gesundheitliche Probleme, aber sie fürchtet sich davor, erneut ins Krankenhaus zu gehen. Ich bewundere sie sehr.
In der KINDERHILFE lernte ich dann wirklich viel, ich lernte richtig zu putzen und konnte in der Küche helfen. Ich war in den Offenen Gruppen und in den verschiedenen festen Gruppen mit Kindern jeden Alters. Ich habe all das Gelernte mit nach Hause genommen und vieles übernommen. Meine Familie ist dem Verein und meinen Paten riesig dankbar.
Über die KINDERHILFE kann ich sagen, dass dieser Verein weder politisch noch religiös beeinflusst wird, dass niemand diskriminiert wird, dass das gespendete Geld gut genutzt wird und dass sie einer Gruppe von wertvollen und kämpferischen Frauen eine Arbeitsmöglichkeit gibt. In all den Jahren konnte sie Leben und Familien positiv verändern, und sie ist damit EINZIGARTIG in Kolumbien. Es gibt hier keine andere Organisation, in der Normen und Regeln so eingehalten werden, die Nahrung und Liebe gibt und behütet, und die Zuflucht und Erleichterung für die Familien ist. Besonders für alleinerziehende Mütter, die in ihrer Verzweiflung alles hinter sich lassen wollen. Der Verein gibt Hoffnung und lässt aufatmen. Hier fand ich eine Mama wie Carmen Julia und Frauen, die mich behütet haben und Schwestern, die sich Tag für Tag Kraft zusprechen. All das, was wir bekommen haben, hoffen wir, an neue Generationen weitergeben zu können und ihnen zu zeigen, dass man alles schaffen kann.
Nach meinem als Patenkind abgeschlossenen Jurastudium bin ich jetzt in der KINDERHILFE fest angestellt und vor allem für die Babykrippe verantwortlich. Dazu gehören die Hausbesuche, Berichte und der soziale und emotionale Beistand der Familien, die ich auch juristisch berate und vertrete. Diese so wichtige Hilfe können sie sich normalerweise nicht leisten.
Yaneth Rocio Rivera Pantoja im Oktober 2022